Religiöse Erziehung: Die fehlenden Puzzleteile finden

Eltern, die in der Erziehung ihrer Kinder nicht auf die Vermittlung verbindlicher inhaltlicher Werte verzichten wollen, müssen die Kraft haben, auch gegen den Strom zu schwimmen. Dies gilt selbstverständlich auch für die religiöse Erziehung.

Wandel im gesellschaftlichen Umfeld

Es liegt in der Natur der pluralen Gesellschaft, dass die Vermittlung von verbindlichen Inhalten sich besonders schwierig gestaltet. Diese Tatsache hat vor allem für die Erziehung weit reichende Folgen. Eltern, die in der Erziehung ihrer Kinder nicht auf die Vermittlung verbindlicher inhaltlicher Werte verzichten wollen, müssen die Kraft haben, auch gegen den Strom zu schwimmen. Dies gilt selbstverständlich auch für die religiöse Erziehung.
Doch haben Eltern hier nicht selten noch mit einer zweiten Schwierigkeit zu kämpfen. Diese ergibt sich nicht erst mit der Vermittlung der religiösen Inhalte, sondern bereits mit den Inhalten als solchen. Bestand Glaubenserziehung früher im Wesentlichen darin, ein zwar umfangreiches, aber in sich fest stehendes Set von Sätzen weiterzugeben, so scheint Eltern heute diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Wenn sie sich für eine religiöse Erziehung ihrer Kinder entscheiden, dann geht es ihnen nicht einfach darum, den Glauben weiterzugeben, der ihnen selbst überliefert wurde. Vielmehr legen sie im Besonderen Wert darauf, vor allem den Glauben weiterzugeben, der sich in ihrem persönlichen Leben bewährt hat.
Auch diese Veränderung ist zu einem guten Teil auf das gewandelte gesellschaftliche Umfeld zurückzuführen. Menschen finden zu Werthaltungen und vergewissern sich dieser Werthaltungen im Austausch mit anderen. Wer tagtäglich erlebt, dass Bescheidenheit von der eigenen Umgebung nicht honoriert wird, ja diese im Gegenteil erwartet, dass man seine Stärken stets ins rechte Licht setzt, wird über kurz oder lang seine eigenen Vorentscheidungen in punkto Bescheidenheit überprüfen und sie gegebenenfalls der allgemeinen Einschätzung anpassen.

»Was ist mein Glaube mir wert?«

Derselbe Mechanismus entfaltet auch im Hinblick auf den Glauben seine Wirksamkeit. In einer Umwelt, für die christliche Glaubensinhalte bedeutungslos geworden sind, erscheinen Gläubige als Menschen, die ein von der Norm abweichendes Verhalten zeigen, das sie vor sich und vor anderen rechtfertigen müssen. Gläubige sehen sich von daher immer wieder herausgefordert, sich die Frage: »Was ist mein Glaube mir wert?« zu stellen. Auf diese Frage wird nur der eine positive Antwort geben können, dem es gelingt, in seinem persönlichen Leben Situationen auszumachen, in denen sein Glaube sich als hilfreich erwiesen hat. Wer erlebt hat, wie entlastend es ist, an einen gütigen Gott glauben zu können, der den Menschen unabhängig von seiner Leistung immer schon angenommen hat und liebt, wird über diese existenzielle Erfahrung die Kraft finden, jenen zentralen Glaubensinhalt auch gegen Widerstände zu verteidigen.

Individueller Glaubens-Ansatz

Die Notwendigkeit, den eigenen Glauben gegenüber einer ungläubigen Umwelt zu rechtfertigen, führt so zwangsläufig dazu, dass ein stark subjektives Element in den Glauben eindringt und die Summe der eigenen Lebenserfahrungen zum kritischen Prüfraster für die Bedeutung und Sinnhaftigkeit von Glaubensaussagen wird. Dieser individuelle Ansatz wirkt sich ganz entscheidend auf die Auswahl und Deutung von Glaubensinhalten aus. Vereinfacht gesprochen kann man sagen, dass Glaubende heute vor allem die Inhalte hochschätzen, deren Sinnhaftigkeit und Bedeutung sie innerhalb ihres eigenen Erfahrungshorizontes erkennen, während sie andere Inhalte, die sich im Kontext dieses Horizontes nicht bewähren konnten, als unbedeutend zurückstellen und wieder andere gar als Zumutung empfinden und ablehnen.
Wieder mag das Gottesbild als Beispiel dienen. Wie bereits angedeutet wurde, ist dieses heute vornehmlich durch die Züge eines verständnisvollen und liebenden Vatergottes bestimmt. Dass Gott aber nicht nur der gütige Vater aller Menschen, sondern auch der mächtige Herr der Geschichte ist und mit einem gewissen Anspruch an seine Welt herantritt, ist im Allgemeinen weit weniger präsent. Als Menschen, die eine verhängnisvolle Geschichte hinter sich haben, nun aber in einer gesicherten Demokratie leben, wissen wir, dass Macht ohne Kontrolle zu entarten droht. Die dunkle Seite der Macht ist uns Mitteleuropäern heute so sehr bewusst, dass wir uns schwer tun, Macht als eine Eigenschaft Gottes zu verstehen. Anders ist dies etwa für die Menschen in Lateinamerika. Sie, die den groß angelegten Strukturen der Ausbeutung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, hoffen nicht nur auf einen gnädigen und nachsichtigen, sondern vor allem auch auf einen mächtigen Gott, einen Gott, der mächtiger ist als alle irdischen Strukturen der Unterdrückung. Wem derartige Erfahrungen von Ausbeutung erspart geblieben sind, dem fällt es schwer, die Macht Gottes positiv als eine Möglichkeit zu sehen, die auch dort noch Veränderungen schaffen kann, wo alle menschlichen Bemühungen gescheitert sind.

Aufbau des eigenen Weltbildes

Menschen haben vor allem während der Phase ihrer Erwerbstätigkeit nur begrenzt Zeit, über ihr Weltbild und dessen Vervollkommnung nachzudenken. Ihre Umwelt trägt eine Fülle von Erwartungen an sie heran, die es zu erfüllen gilt. Mit der Geburt eigener Kinder kommen zu den bereits bestehen den Verpflichtungen weitere hinzu. Über all dem, was tagtäglich zu leisten ist, treten Fragen nach einer Deutung des eigenen Lebens und der Welt nicht selten in den Hintergrund. Dort schlummern sie oft so lange, bis ihre Kinder selbst anfangen, ihr eigenes Weltbild zu entwerfen.
Etwa zwischen dem vierten und dem siebten Lebensjahr unternehmen es Kinder, sich ein eigenes Weltbild aufzubauen. Dabei verarbeiten sie ihre individuelle Auswahl dessen, was sie gesehen, gehört und erlebt haben. Kinder wollen die Welt verstehen, in der sie leben, denn nur eine hinreichend kalkulierbare Welt kann ihnen die Sicherheit geben, die sie gerade angesichts ihrer eigenen Schwäche und Verletzlichkeit so dringend benötigen.
Die relativ komplexe Bewusstseinsleistung, die Kinder beim Aufbau ihres eigenen Weltbildes vollbringen, vollzieht sich weitgehend, ohne dass Eltern dies wahrnehmen. An entscheidenden Punkten werden sie jedoch ausdrücklich in diesen Prozess einbezogen. Dies ist immer dann der Fall, wenn ihre Kinder Erfahrungen miteinander verknüpfen wollen, ihnen das in eigener Regie aber nicht gelingt. Es sind dann meist ganz konkrete Einzelfragen, mit denen sie Erwachsene um Hilfe bitten. In Wirklichkeit steckt hinter diesen Fragen jedoch wesentlich mehr als nur das Bedürfnis nach Information. Wer sich dessen nicht bewusst ist, für den wird auch nur die Spitze des Eisbergs sichtbar, wenn sein Kind ihm etwa die Frage stellt: »Warum hat Gott denn alle außer Noah ertrinken lassen, wenn er doch so lieb ist?«
Eltern, die sich eingehender mit Fragen wie dieser befassen, spüren, welchen Stellenwert diese Fragen für Kinder haben. Und an der konkreten Frage etwa nach dem Verhalten Gottes bei der Sintflut merken sie zudem, wie unvollständig ein Gottesbild ist, das sich ganz auf die Züge des nachsichtigen Vaters konzentriert, die Züge eines fordernden Gottes darüber aber verschweigt. Es sind Situationen wie diese, in denen Eltern erkennen, dass das, was sie bislang vor sich und vor anderen als das Ganze ausgegeben haben, in Wirklichkeit nur ein Teil der Wahrheit ist. Von der kindlichen Aufforderung, über die ganze Wahrheit Auskunft zu geben, sehen sie sich deshalb zu Recht überfordert.

Eltern bleiben bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder nicht selten allein

Wer sich für eigene Kinder entscheidet, muss sich im Laufe der Zeit immer wieder eingestehen, dass ihm manches wichtige lebenspraktische Wissen fehlt. Im Allgemeinen fällt es Eltern nicht schwer, solche Defizite zu beheben. Quellen, von denen man in dieser Hinsicht Hilfe erfährt, sind zum einen informelle Elternnetzwerke und zum anderen professionelle Autoritäten. Andere Eltern sind häufig die erste Adresse, wenn Kleinkinder nur mit Mühe zum Essen zu bewegen sind oder Schulkinder den ganzen Nachmittag über den Hausaufgaben vertrödeln. Führen die auf diesem Wege erhaltenen Tipps nicht zum Ziel, wendet man sich an einschlägige Fachleute wie den Arzt oder die Lehrerin.
Bei Problemen, die die religiöse Erziehung des Kindes aufwirft, beschreitet man diese Wege jedoch seltsamerweise nicht. Dass eine Mutter in gemütlicher Kaffeerunde von den Schwierigkeiten erzählt, denen sie etwa bei der Vermittlung des Gottesbildes begegnet, dürfte ausgesprochen selten sein. Zu groß ist die Angst, als religiöse Spinnerin zu erscheinen. Religion ist schließlich Privatsache und als Gesprächsthema tabu. — Aber auch der Pfarrer als die greifbare Autorität vor Ort wird in solchen Fragen kaum konsultiert. Über die dafür maßgeblichen Gründe mag man rätseln. Spielt hier mit, dass er selbst keine Kinder hat, also die Vermittlungssituation, in der man selbst steht, nicht kennt, oder liegt es eher daran, dass man Bedenken hat, sich ihm als dem Vertreter der Kirche gegenüber zu dem eigenen, fragmentarischen Glauben zu bekennen? Was immer die Hürden sind — in jedem Fall scheinen sie sehr hoch zu sein. Und so bleiben Eltern mit den Schwierigkeiten, die sie bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder erfahren, nicht selten allein.

Elternschule zur religiösen Erziehung

Eine Elternschule bietet speziell in dieser Situation Hilfestellung an. Ihr Ziel ist es, Eltern neue Einsichten in die Glaubensinhalte zu vermitteln, die sie in ihrer eigenen Erziehungsarbeit als Defizite erkannt haben. Um so konkret wie möglich bleiben zu können, baut das Konzept auf eben den Fragen auf, an denen Eltern ihre Grenzen erfahren haben. Sie werden deshalb zunächst einmal aufgefordert, solche Fragen zusammenzustellen.
In der Praxis erweist sich schon das Ergebnis dieses ersten Teilschritts als sehr ergiebig. Ein Überblick über die Fragen, die Eltern aus ihrer Erinnerung heraus noch benennen können, zeigt in der Regel nämlich, dass die kindlichen Fragen sich auf exakt jene Themenbereiche konzentrieren, die ihren Eltern selbst fremd geblieben und von daher kaum in die Glaubenserziehung eingeflossen sind. Der mächtige und unter Umständen auch der zürnende Gott wird in diesen Fragen ebenso oft benannt wie die Auferstehung der Toten oder die rechte Vorstellung des Himmels. Kinder fordern mit ihren Fragen also gezielt die Puzzleteile ein, die ihrem Weltbild noch fehlen. Und es sind dies eben die Puzzleteile, die auch im Weltbild ihrer Eltern nicht vorkommen.

Mehr als Wissensvermittlung

Das Bewusstsein, dass ihre Kinder nach genau den Inhalten fragen, die ihnen selbst bislang verschlossen geblieben sind, motiviert Eltern, sich neu um diese Inhalte zu bemühen, um dadurch vielleicht doch noch deren Sinnhaftigkeit einsehen und sie verantwortlich weitergeben zu können. Bei den weiteren Treffen der Elternschule geht es deshalb um die Vermittlung der besagten Inhalte. Dabei werden eben die Wege beschritten, die Eltern auch in anderen Bereichen nutzen, um eigene Defizite zu beheben, nämlich einmal die Hilfestellung durch andere Eltern und zum anderen die Unterstützung durch Fachleute. In Kurzreferaten haben sie zu beleuchten, was Kirche meint, wenn sie von der Macht Gottes, von Auferstehung der Toten oder vom Himmel spricht. Dabei achten ihre Ausführungen besonders darauf, die lebenspraktische Relevanz dieser Glaubensaussagen herauszuarbeiten. Diese wichtigen Basiselemente bereiten den Weg für eine intensive Anwendungsphase, während die Eltern in Kleingruppen von vier bis sechs Personen versuchen, Antworten auf eben die Fragen zu finden, vor denen sie bis vor kurzem noch kapitulieren mussten.
Nach den Erfahrungen der Autorin sind es drei Erfahrungen, die die Teilnehmer dieser Elternschule abschließend immer wieder hervorheben, nämlich einmal

  • das Bewusstsein, dass es Fragen gibt, die man sich früher oft gestellt hat, über den Anforderungen des Alltags jedoch »stillgelegt« hat, dann
  • die Verwunderung darüber, dass das, was man so lange als überholt oder unbedeutend betrachtet hatte, eine wertvolle Orientierung für das eigene Leben bietet, und schließlich
  • die Freude darüber, dass die Antwort, zu der man in der eigenen Glaubensreflexion gefunden hatte, der Lehre der Kirche entspricht.

Regina Radlbeck-Ossmann